3sat-Dokumentation: Wie Hochsensible die Welt wahrnehmen

3sat-Erstausstrahlung am 22. Mai 2024 um 20:15 Uhr
Eine Dokumentation von Henriette Maslo-Dangl

Etwa 20 Prozent der Bevölkerung sind nach aktuellem Forschungsstand hochsensibel. Die Dokumentation stellt Menschen mit diesem Wesenszug vor und beleuchtet ihre Stärken und Herausforderungen. Expertinnen und Experten aus den Bereichen Psychologie, Medizin, Pädagogik, Arbeit und Wirtschaft geben Einblick in den noch jungen Wissenschaftszweig. Weltweit wird das Phänomen „Hochsensibilität“ untersucht. An der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg widmet sich Persönlichkeitspsychologe Philipp Yorck Herzberg mit seinem Team diesem Thema.

Wer hochsensibel ist, nimmt Sinnesreize intensiver wahr, verarbeitet sie tiefer und hat oft ein ausgeprägtes Gespür für Ästhetik. Deswegen wird in der Forschung vermutet, dass Hochsensibilität unter anderem bei Künstlerinnen und Künstlern häufig vertreten ist.

Musikerin und Musikredakteurin Bina Bianca zählt zur Gruppe der hochsensiblen introvertierten Menschen. Mit ihren selbst geschriebenen Songs ist sie auf den Social-Media-Plattformen bekannt und beliebt. Ein großer Teil ihres Lebens spielt sich online ab – und Bina Bianca ist glücklich damit. Der Rückzug in die eigenen vier Wände bietet ihr die Möglichkeit, sich vor Reizüberflutung zu schützen.

Katja Keßler ist Schauspielerin, Synchronsprecherin und Sängerin. „Ich bin definitiv eine extravertierte hochsensible Person.“, lacht sie. Sie liebt es, auf der Bühne laut zu sein. Mit ihrer speziellen Kombination von Wesenszügen ist allerdings das Risiko, sich zu verausgaben und das erst zu spät zu bemerken, noch höher als bei introvertierten hochsensiblen Menschen. Katja Keßler weiß das und achtet umso mehr auf Erholungsphasen. „Wenn der Cortisolspiegel steigt, dann muss ich mich zurückziehen und brauch‘ meine Auszeit.“, erklärt sie.

Für Pädagogin Karin Abriel zeigt sich Hochsensibilität bereits im Kindesalter – zum Beispiel durch langsameres Arbeiten, einen großen Perfektionismus, tiefgründiges Fühlen, Denken und Fragen. Sie coacht nicht nur Eltern, sondern hält auch Vorträge für Lehrkräfte zum Thema „Hochsensibilität im Unterricht“.

Kathrin Talab hat lange an klassischen Schulen unterrichtet, dann aber dem Regelschul-System den Rücken gekehrt und eine internationale Online-Schule gegründet, die auf hochsensible Kinder bestmöglich eingehen möchte. „Sie fühlen und spüren ganz genau und intuitiv, was ihnen guttut … wenn man sie doch lassen würde!“, erläutert die Schuldirektorin.

Ob Regelschulen oder Alternativschulen: Expertinnen und Experten betonen, dass beide Systeme immer mit den Menschen stünden und fielen, die darin arbeiteten und wirkten.

Chris Novi hatte nicht das Glück, dass seine Hochsensibilität bereits in seiner Kindheit erkannt und gefördert worden wäre. Er ist Musiker, Autor und Maler und zudem Mitbegründer und Obmann der Selbsthilfe-Initiative SAG-7 für hochsensible Personen, deren Angehörige und alle Interessierten. Sie wird aus den Mitteln der österreichischen Sozialversicherung gefördert und ist Mitglied des Bundesverbandes „Selbsthilfe Österreich“.

Unterstützung hat Chris Novi vom Leiter der Erwachsenen-Psychiatrie am Universitätsklinikum Tulln, Martin Aigner, erhalten. Der Mediziner grenzt genau ab, dass Hochsensibilität keine Erkrankung ist, sondern eine Wesenseigenschaft. Manche Hochsensible können aufgrund der geringeren Reizschwelle unter ungünstigen Umständen allerdings anfälliger für diverse Erkrankungen wie etwa Depressionen oder Alkoholismus sein. Die gemeinnützige Organisation SAG-7 informiert, hilft und ermöglicht Austausch unter Gleichgesinnten.

Kristin Kluck coacht Führungskräfte aus dem gesamten deutschen Sprachraum. Sie möchte das Wissen über die speziellen Eigenschaften hochsensibler Menschen im Berufsleben an den Unternehmensspitzen etablieren. Eine Studie des Weltwirtschaftsforums habe die 10 Top Skills herausgefunden, die Unternehmen bräuchten, um auch in Zukunft bestehen zu können. Das Interessante sei, dass hochsensible Menschen von Natur aus bereits 8 dieser 10 Fähigkeiten besäßen – zum Beispiel Kreativität, Verarbeitungstiefe, Sinn für Details, Einfühlungsvermögen usw.

Elisabeth Brückler blickt auf ein erfülltes Berufsleben im Versicherungs-Partner-Management zurück. In verantwortungsvoller Schlüsselposition, aber ohne Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen unter sich, hatte sie die Möglichkeit, für sich die perfekte Nische zu schaffen. Man könne als hochsensitiver Mensch auch in einem ganz klassischen Umfeld wie der Versicherungsbranche, in der es häufig ja auch ein wenig härter zuginge, bestehen, wenn man für sich einstünde und vom Unternehmen die erforderlichen Rahmenbedingungen erhielte. Jetzt ist Elisabeth Brückler in Pension und gibt ihr Wissen als Mentaltrainerin weiter.

Evelyn Dechant-Tucheslau sammelte Führungserfahrung im Bereich der Organisations- und Personalentwicklung von Schulen, bevor sie den Sprung in die Selbständigkeit als Lebens-, Sozial- und Organisationsberaterin gewagt hat. Im Verlauf ihres Berufslebens entscheiden sich hochsensible Menschen wie sie öfters gegen ein klassisches Angestelltenverhältnis, um ihre Arbeit freier nach ihren Bedürfnissen gestalten zu können. Teamgeist ist Evelyn Dechant-Tucheslau jedoch sehr wichtig. Den kann sie auch in ihre Selbständigen-Tätigkeit einbringen.

Martin Roth hat als Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt etwa 1.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unter sich. Nach einem absolvierten Chemie-Studium hatte er zuerst diverse Führungspositionen im Industriebereich durchlaufen, bevor er als Quereinsteiger zur Polizei gegangen ist. Bei der gefährlichen Personenkontrolle, in Ermittlungen oder bei einem Einsatz in der taktischen Kommunikation seien die Eigenschaften hochsensibler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von besonderem Vorteil.

Henriette Maslo-Dangl spannt in ihrer Dokumentation einen Bogen von den Anfängen der Hochsensibilitätsforschung durch die amerikanische Psychologin Elaine Aron in den 1990er-Jahren bis hin zu aktuellen wissenschaftlichen Fragestellungen und dem wachsenden gesellschaftlichen Diskurs zum Thema in der Gegenwart. – Die Personen, die im Film zu Wort kommen – sei es, weil sie selbst hochsensibel sind, sei es, weil sie über Expertise in diesem Bereich verfügen oder gar beide Komponenten in sich vereinen – stammen aus den drei 3sat-Ländern Österreich, Deutschland und der Schweiz und bieten somit einen umfassenden Überblick über den Kenntnis- und Erfahrungsstand zum Phänomen „Hochsensibilität“ im deutschen Sprachraum.